Erstes Kapitel Besuch von Edmund Taranee
Schrill hallte der Klingelton durch die Stille. Mina zuckte zusammen. Gedankenverloren zog sie ihr Handy aus der Rocktasche und tippte auf die grüne Taste.
»Mina, er kommt«, schrie jemand am anderen Ende der Leitung. Die Stimme hörte sich so hysterisch an, dass Pixi aufgescheucht wurde und umherflatterte.
»Arndt?«, fragte Mina.
»Arndt Solas?«, fügte sie sichtlich irritiert hinzu. Ihr Gesprächspartner schnaufte ungeduldig auf.
»Ja, Mina. Ich bin es, Arndt Solas.«
»Weshalb meldest du dich gerade jetzt? Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesprochen.« Verwirrt strich sie sich eine weiße lange Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem streng gebundenen Knoten gelöst hatte. Ihre Wangen leuchteten vor Aufregung.
»Mina! Das ist nicht wichtig. Er kommt zu dir. Er ist schon unterwegs«, brüllte es aus dem Handy.
Mina schwieg.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja, Arndt. Ich bin nicht schwerhörig.«
Schweigen.
Pixi schwebte vor ihr hin und her.
»Mina?«, piepste die kleine Fee in hohen Tönen. »Wen meint er?«
»Wer kommt?«, donnerte sie sodann mit ihrer tiefen, unüberhörbaren Stimme weiter, als sie nicht sofort eine Antwort erhielt. Trotz ihrer Größe, die nicht mehr als eine Daumenlänge maß, konnte sie enorm laut werden und bekam dabei eine Stimme, die einem Bariton glich. Diese nutzte sie jedoch nur, wenn sie sich Gehör verschaffen wollte. Ansonsten hatte sie eine einer zarten Fee entsprechende wunderschöne, glockenhelle Stimme. Nervös flatterte sie mit ihren schillernden Flügeln.
»Wer war das?«, fragte Arndt. Er schrie nun nicht mehr, aber seine Sorge war nicht zu überhören. »Mina, wer ist bei dir?«
Mina Scathan atmete schwer auf. Ihre grauen Augen blitzten müde. »Bist du dir ganz sicher, Arndt?«
»Ja.«
»Woher weiß er es?«
»Von mir.« Arndt schwieg kurz. »Mina, wer ist bei dir? Bitte sag mir, was bei dir vor sich geht.«
Mina schüttelte den Kopf und seufzte. »Das kann ich nicht, Arndt. Wenn er wirklich auf dem Weg zu mir ist, muss ich mich vorbereiten.«
Sie legte das Handy in ihre Hand und wollte gerade auflegen, als er rief: »Mina, hast du ein Wesen aus Eldrid bei dir? Ist es das?«
Sie starrte nachdenklich auf das Handy und hielt es dann wieder ans Ohr.
»Warum hast du mit ihm darüber gesprochen, Arndt?«, fragte sie ernst. »Wir hatten eine Abmachung. Das hat mir gerade noch gefehlt. Genau jetzt.«
»Was willst du damit sagen, Mina?«, rief seine beunruhigte Stimme. »Bei dir stimmt doch etwas nicht. Ich komme sofort vorbei.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte sie ruhig.
Aber Arndt hatte schon aufgelegt.
Mina wandte sich der kleinen Fee zu, die sie mit ihren großen Augen anstarrte. Sie war immer wieder niedlich anzusehen. Mit ihrem grünen Federkleid, den schillernd glänzenden großen Flügeln und dem winzigen Kopf, der von goldschimmernden Haaren bedeckt war. Gold, die Farbe von Eldrid. Alles schimmerte in Goldtönen in Eldrid. Wie auch die Geschöpfe, die dort lebten. Die meisten zumindest. Sie atmete tief durch. »Wir bekommen Besuch, Pixi«, erklärte sie mit leicht belegter Stimme. »Wir müssen das Spiegelbild einschließen.«
Sie stand regungslos in der Küche. Aber Pixi flatterte vor ihrem Gesicht hin und her und stemmte die Hände in die Hüften. Ihr kleiner Körper schillerte in allen nur erdenklichen Farben, und die zarten Flügel, die sie trugen, waren vor Aufregung kaum zu sehen.
»Mina, du musst mir jetzt sofort sagen, was hier los ist«, donnerte das winzige Geschöpf mit ihrer tiefen lauten Stimme los.
Mina löste sich aus der Erstarrung und blickte sie traurig an. »Die Mitglieder der Spiegelfamilien, Pixi. Sie wollen mit mir reden. Also statten sie mir einen Besuch ab. Jetzt gleich.«
Pixi runzelte die Stirn und hob fragend die Schultern.
»Ich habe die anderen Familien nicht informiert. Nachdem Uri mich besucht hatte, habe ich nur mit Arndt Solas gesprochen. Er versprach mir, es für sich zu behalten. Aber nun ist der alte Taranee auf dem Weg. Und er hat Fragen.«
»Edmund Taranee kommt hierher?«, piepste sie erschrocken und schlug sich die kleine Hand vor den Mund.
Mina nickte leicht und blickte sie ernst an.
»Und Arndt Solas auch. Fehlen nur noch Mitglieder der Ardis- und Dena-Familien, und wir würden eine Versammlung der Spiegelfamilien abhalten.«
Mina seufzte erneut und ging langsam aus der Küche. Sie wirkte in diesem Moment alt. Sehr alt.
Pixi flatterte ihr aufgeregt hinterher.
»Sie dürfen dich nicht sehen«, murmelte Mina wie zu sich selbst. »Ich werde versuchen, Edmund abzuwimmeln. Und Arndt ebenfalls. Ich kann ihm nicht mehr trauen.«
Sie blieb stehen und sah die Fee nachdenklich an. »Was machen wir mit dir und dem Spiegelbild? Ich muss euch beide verstecken. Meinst du, du kannst das Spiegelbild so lange in Schach halten? Ludmilla ist offiziell nicht in das Geheimnis der Spiegelfamilien eingeweiht, deshalb werden sie nicht nach ihr fragen. Das Spiegelbild ist in ihrem Zimmer. Vielleicht bleibt ihr einfach dort?«
Ohne Pixis Antwort abzuwarten, eilte sie zu Ludmillas Zimmer, scheuchte die Fee hinein und schloss die Tür. Mit zittrigen Fingern holte sie ihr Schlüsselbund aus der Rocktasche. Sie zögerte. Sollte sie die beiden einschließen? Dann würde Ludmillas Spiegelbild vielleicht erst recht anfangen zu lärmen.
Noch während sie überlegte, klingelte es energisch an der Haustür.
Mina stand im Flur und regte sich nicht. Sie lauschte in Ludmillas Zimmer hinein. Es war kein Laut zu hören.
Beim zweiten Klingeln, das von einem kräftigen Klopfen begleitet wurde, ging sie langsam zur Haustür. Ihr langer Rock rauschte leise, und sie knotete behände die Haare wieder zu einem Knoten zusammen. Die Brille, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, schob sie sich auf den Kopf.
»Mach auf, Mina. Ich weiß, dass du da bist. Dein Auto steht in der Einfahrt und …« Ein höhnisches Lachen ertönte. »… du verlässt dein Haus ja sowieso so gut wie nie. Also mach auf!« Es war eine tiefe, befehlende Stimme.
Mina öffnete gemächlich die Tür und lächelte ihrem Gast distanziert entgegen.
»Edmund«, flötete sie betont höflich. »Du musst mir schon die Zeit lassen, zur Tür zu kommen.« Sie blickte dem alten Edmund Taranee in sein faltiges Gesicht. »Und wie ich sehe«, ein gewisser Spot machte sich in ihrer Stimme breit, »du kommst ohne deinen Schatten. Ich nehme also an, dass du ihn bisher auch nicht zurückholen konntest.«
Edmund Taranee schob sie energisch zur Seite und betrat das Haus. Seine Haltung war aufrecht, sein Gang leichtfüßig, aber bestimmt. Er hatte volles weißes Haar, das ihm trotz des strengen Seitenscheitels in die Stirn fiel. Er war ein großer schlanker Mann, und bis auf die Haare und die faltige Haut ließ nichts auf sein Alter schließen. Die graublauen Augen blitzten jugendlich, und seine Bewegungen waren leichtgängig wie die eines jungen Mannes. Gekleidet war er in einen dunkelblauen Anzug mit passender Weste, darunter ein blaugestreiftes Hemd, eine Seidenkrawatte mit einem Muster in verschiedenen Blautönen, und aus der Brusttasche schaute ein farblich abgestimmtes Einstecktuch hervor. Die Füße steckten in bordeauxfarbenen Lederloafern mit Troddeln in derselben Farbe.
Mina musterte ihn amüsiert. »Edmund, du hast nichts dazugelernt. Immer noch genauso eitel wie dein Spiegelwächter. Ihr habt schon immer gut zusammengepasst«, entfuhr es ihr schnippisch, während sie ihm mit betont gemächlichem Schritt folgte.
Edmund warf ihr einen zynischen Blick zu und setzte sich unaufgefordert an den Küchentisch.
»Kommen wir gleich zur Sache, Mina.« Seine Stimme klang hart und sachlich. »Ich habe gehört, dass dein Spiegelwächter dich besucht hat. Nach all der Zeit findest du heraus, dass dein Spiegel funktioniert, und du hältst es nicht für nötig, die anderen Spiegelfamilien zu informieren?« Herrisch schlug er die Hand auf den Tisch. »Wenn es wirklich stimmt, dass du im Besitz eines funktionierenden Spiegels bist, dann bist du verpflichtet, uns dies mitzuteilen.«
Fordernd sah er sie an. Mina lehnte noch immer in der Küchentür. Es gab zwei Türen in Minas Küche. Die eine führte in den Flur zur Haustür, die andere, genau gegenüberliegende, zu den restlichen Zimmern des Hauses und zur Treppe. Langsam löste sie sich von dem Türrahmen, strich bedacht ihren langen Rock zurecht und schritt auf Edmund zu. Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Küchentisch und sah ihn mit funkelnden Augen an. Dabei stieg ihr Zornesröte in die Wangen. Sie schob ihren Kopf nach vorn und starrte ihren ungebetenen Gast an.
»Also gut, Edmund«, presste sie hervor. »Kommen wir zur Sache: Ich bin dir überhaupt keine Rechenschaft schuldig.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter und schriller. »Ich habe meinen Schatten und meine Schwester an diese Welt verloren. Deshalb beschloss ich damals, den Spiegel meiner Familie, der Scathan-Familie, nicht mehr zu nutzen. Das teilte ich den Spiegelfamilien mit, und seitdem habe ich mich daran gehalten. Ich habe nie behauptet, dass unser Spiegel nicht funktioniert. Ich habe lediglich darüber informiert, dass der Scathan-Spiegel nicht mehr genutzt wird. Von seiner Funktionsfähigkeit war nie die Rede. Aber da ich weder Interesse an diesem Spiegel noch an Eldrid habe, ist das auch nicht relevant.« Sie schob ihr Gesicht ganz nah vor seines, so dass sich ihre Nasen fast berührten, und flüsterte: »Das ist unserSpiegel. Der Scathan-Spiegel.«
Edmund Taranee hielt ihrem Blick stand und bewegte sich nicht. Eisige Kälte stand in seinen Augen, während Mina ihn weiter anfuhr: »Die Scathan-Familie ist fertig mit Eldrid. Wir reisen nicht mehr nach Eldrid. Wir haben genug Verluste erlitten. Wie die anderen Spiegelfamilien mit ihren Spiegeln verfahren, interessiert uns nicht!«
Sie stieß ihm den Finger auf die Brust. »Lege dich nicht mit der Scathan-Familie an. Verstanden?«
Edmund Taranee wich nicht vor ihr zurück. Ohne den Blick zu senken, umschloss er ihren Finger mit seiner Hand und schob ihn von sich. Ruckartig erhob er sich und baute sich vor ihr auf. Sie zuckte noch nicht einmal, sondern legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht blicken zu können.
»Deine Entscheidungen sind für mich ohne Belang«, knurrte er. »Sie sind für die Spiegelfamilien bedeutungslos. Die Spiegel haben alle einen und denselben Zweck: als Portal nach Eldrid zu dienen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich eine Familie dazu entschließt, ihren Spiegel nicht mehr zu nutzen.« Ruckartig wandte er sich um und fing an, um den Tisch herum zu laufen. Dabei ließ er Mina nicht aus den Augen.
»Die Taranee-Familie nimmt weiterhin ihre Aufgaben wahr und bewacht ihren Spiegel. Auch wenn er nicht funktioniert. Seit Jahrzehnten versuche ich herauszufinden, warum das so ist. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass es mit dem Verlust meines Schattens zusammenhängt. Ehrlich gesagt habe ich deinem Geschwafel, dass du dich weigerst, den Spiegel je wieder zu benutzen, nie Glauben geschenkt. Vielmehr habe ich vermutet, dass er nach dem Verlust deines Schattens und dem Missbrauch durch deine Schwester unbrauchbar geworden ist. Der Taranee-Spiegel dagegen hat nur seine Funktionstüchtigkeit eingebüßt. Jetzt jedoch, da ich weiß, dass euer Spiegel funktioniert, erwarte ich von dir, dass du ihn mir zugänglich machst und mich nach Eldrid beförderst. Ich habe ein Recht darauf, meinen Schatten zurückzufordern.«
Mina lachte hysterisch auf. »Ha. Ein Recht? Ein Recht, Edmund? Was für ein Recht? Unsere Familien sind einen Pakt eingegangen. Vor mehr als hundert Jahren haben wir einen Pakt geschlossen. Die fünf Spiegelfamilien: Die Scathans, die Taranees, die Solas‘, die Ardis‘ und die Denas. Einen Pakt, Edmund. Wir haben kein Gesetz unterschrieben, auch wenn du das gerne so siehst. Wir wollten Eldrid vor unserer Welt bewahren. Wir waren davon überzeugt, dass wir die magischen Wesen vor der Neugier der Menschen schützen müssten. Hätten wir gewusst, wie gefährlich Eldrid ist, hätten wir anders gehandelt. Aber wir sahen nur die wundervolle Welt, waren bezaubert, verzaubert – und sahen nicht die Gefahren. Wir waren Narren. Und diesen Irrtum hat unsere Familie teuer bezahlt. Wir müssen unsere Welt vor Eldrid schützen. Wenn du anderer Meinung bist«, ihr entfuhr ein höhnisches Krächzen, »und das ist typisch für die Taranee-Familie, dass ihr uns nicht zustimmt, dann bedauere ich dies. Dennoch steht der Scathan-Spiegel für Reisen nach Eldrid nicht mehr zur Verfügung. Und nun möchte ich dich höflich bitten, mein Haus zu verlassen!«
Sie machte eine einladende Handbewegung Richtung Haustür. Ihr gesamter Körper bebte vor Anspannung.
Edmund Taranee durchbohrte sie mit seinen kalten blaugrauen Augen und rührte sich nicht. In diesem Moment klingelte es erneut. Mina setzte ein künstliches Lächeln auf. »Ach, ich vergaß zu erwähnen, dass dein Freund, Arndt Solas, ein schlechtes Gewissen bekam und sich deshalb auf den Weg hierher gemacht hat. Sicherlich möchtest du ihn begrüßen.«
Mit diesen Worten ging sie zur Tür.
»Also ist es wahr«, hörte sie Edmunds düstere Stimme hinter sich. Sie reagierte nicht, sondern öffnete die Tür.
Arndt Solas hatte blaue wässrige Augen und ein von Falten und Furchen durchzogenes Gesicht. Auf der Nase saß eine große schwarze Hornbrille mit dicken Gläsern, die die Augen kleiner wirken ließen. Seinen Kopf bedeckten außer einem dunklen kargen Kranz im Nacken kaum Haare. Der untersetzte Körper steckte in einem zerknitterten weißen Hemd und einer verschlissenen braunen Jacke, die mit Flecken übersät war. Die Hose war an einigen Stellen geflickt, und die Lederschuhe waren abgetragen.
Er stürmte an Mina vorbei, so schnell ihn seine alten wackeligen Beine tragen konnten. Den Stock vor sich in der Luft herumfuchtelnd lief er in die Küche und blieb schwer atmend vor Edmund Taranee stehen.
»Du wagst es nicht …«, krächzte er.
Edmund blickte ihn an. Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte seinen Mund.
»Arndt Solas«, näselte er. »Welch eine Freude, dich so schnell wiederzusehen!« Er ließ sich wieder am Küchentisch nieder.
Arndt starrte ihn entgeistert an und rang immer noch nach Luft.
»Arndt, mein Lieber«, fiel Mina Edmund ins Wort. »Wie schön, dass du mich besuchst. Die Umstände könnten erfreulicher sein. Aber du kommst zu spät zu unserer kleinen Zusammenkunft, denn leider wollte Edmund mich gerade verlassen. – Nicht wahr, Edmund?«, fauchte sie und rüttelte an seinem Stuhl.
Er warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Ich gehe nirgendwohin, Mina. Ich bin hier, um Antworten zu erhalten, und ich verlasse dieses Haus erst, wenn ich weiß, was hier vor sich geht.« Seine Stimme hallte durch die Räume des Hauses wie ein kalter Windhauch.
Mina kniff die Augen zusammen. Sie blieb wie versteinert stehen und krallte sich an dem Stuhl fest, auf dem Edmund saß.
»Du hast mich wohl nicht richtig verstanden, Edmund. Es gibt nichts mehr zu besprechen. Wir sind hier fertig. Der Scathan-Spiegel steht als Portal nicht zur Verfügung. Jetzt nicht und in Zukunft auch nicht. Und nun bitte ich dich ein letztes Mal höflich zu gehen!«
Ihre Stimme war schrill. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. Der alte Taranee rührte sich jedoch nicht.
Arndt Solas, der seinen Atem wiedergefunden hatte, saß ihm inzwischen gegenüber und starrte den Alten verbissen an.
»Du hast sie gehört, Edmund. Lass es gut sein. Du wirst hier nichts erreichen. Du weißt genauso gut wie ich, dass du sie nicht zwingen kannst, den Spiegel zum Leuchten zu bringen. Er reagiert nicht unter Druck. Wenn du unbedingt nach Eldrid reisen willst …« Arndt hielt kurz inne und sah Edmund zweifelnd an. »… und dich in die Gefahr bringen willst, verbannt zu werden, dann schicke ich dich durch unseren Spiegel, den Solas-Spiegel, nach Eldrid. Er wird mir gehorchen. Versuche es doch noch einmal mit unserem Spiegel, wenn der Taranee-Spiegel wirklich nicht reagieren mag.«
»Was heißt hier ›mag‹«, knurrte Edmund. »Du weißt genauso gut wie ich, dass der Taranee-Spiegel seit dem Verlust meines Schattens nicht mehr leuchtet. Und der Solas-Spiegel hat seiner Familie so oft nicht gehorcht – warum soll ich meine Zeit mit dem Solas-Spiegel verschwenden, wenn der Scathan-Spiegel garantiert leuchtet?«
Er wandte sich wieder Mina zu, die wie versteinert neben ihm stand und sich auf die Stuhllehne stützte.
»Ist es nicht so, Mina Scathan?«, flüsterte er kaum hörbar.
»Edmund Taranee«, donnerte Mina los. »Verlasse augenblicklich mein Haus. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.«
Sie hatte sich über ihn gebeugt, als wollte sie ihn mit ihrem Körper ersticken. Edmund rutschte vom Stuhl und richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. So standen sie sich bebend gegenüber und starrten sich in die Augen.
Arndt hob beschwichtigend die Hände. »Hört auf damit«, flehte er sie hilflos an. »Ihr habt keine Kräfte, mit denen ihr euch messen könnt. Weder hier noch in Eldrid. Ihr seid beide schattenlos. Also hört damit auf.«
Mina und Edmund wandten ihm ihre Köpfe zu und funkelten ihn an.
»Das ist genau der Grund, warum ich hier bin. Ich möchte meinen Schatten zurückverlangen«, zischte Edmund.
»Aber nicht durch meinen Spiegel«, presste Mina hervor.
»Also widersprichst du mir nicht, wenn ich behaupte, dass der Scathan-Spiegel funktioniert?«, wisperte Edmund Taranee voller Genugtuung.
Mina schob das Kinn nach vorn und schwieg. Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Haustür.
»Geh«, flüsterte sie, während sie ihm fest in die Augen sah. »Du wirst hier nichts erreichen. Nicht, solange der Scathan-Spiegel in meinem Haus steht und sich in meiner Obhut befindet.« Sie atmete schwer. »Und daran wird sich so bald nichts ändern. Also, raus hier, Edmund. Du bist nicht erwünscht.«
Der alte Taranee sah von Arndt zu Mina, kniff die Augen zusammen und verließ wortlos die Küche. Während er zur Haustür ging, rief er: »Das hier ist noch nicht vorbei, Mina Scathan! Das ist noch nicht vorbei.«
Mit einem Krachen fiel die Haustür ins Schloss.
Erleichtert ließ Mina sich auf den Stuhl fallen.
Arndt sah sie besorgt an. »Geht es dir gut, Mina? Du bist plötzlich so blass.«
Sie warf ihm einen verachtenden Blick zu: »Nein, Arndt. Mir geht es nicht gut. Dieser ungebetene Gast hat mich viel Kraft gekostet. Und dich möchte ich jetzt auch bitten zu gehen.«
Arndt sah sie erstaunt an. »Du bist doch nicht etwa sauer auf mich?«
Als sie nicht antwortete, nestelte er an seiner Jacke herum und blickte betreten auf den Küchentisch. »Es tut mir leid, Mina. Es ist mir rausgerutscht. Er hat mich mal wieder versucht zu zwingen, unseren Spiegel zum Leuchten zu bringen. Unter Zwang funktionierte er nicht. Wie schon so oft zuvor. Er wurde wütend. Beschimpfte mich. Bedrängte mich. Ich solle mich mehr anstrengen. Ich wollte aber gar nicht, dass der Spiegel funktioniert. Bodan kann die Taranees nicht leiden. Wie würde er reagieren, wenn ein Taranee durch seinen Spiegel reist? Deshalb habe ich ihm gesagt, dass der Scathan-Spiegel auf jeden Fall funktionieren würde, da dich Uri vor ein paar Monaten besucht habe. Es sprudelte einfach aus mir heraus, ohne dass ich es wollte. Ich wollte ihn nur loswerden.«
Arndt warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Du weißt, wie er sein kann, Mina. Glaub mir, ich wollte das nicht. Es tut mir leid.«
Mina blickte ihn prüfend an und schwieg.
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